Linke Außenpolitik braucht ein Update
Vor genau zwei Wochen habe ich gemeinsam mit anderen linken Genoss:innen vor der Russischen Botschaft in Berlin demonstriert, wenige Tage bevor Putin einen Angriff auf die Ukraine startete. Mit einigen anderen Mitgliedern der Partei DIE LINKE bin ich dem Aufruf von Ulrich Schneider gefolgt, der gefordert hat, dass die Friedensbewegung endlich sichtbarer wird und den Protest dahin trägt, wo er hingehört: nämlich vor die Russische Botschaft. Vor der Russischen Botschaft zu demonstrieren war lange Zeit für Linke nicht üblich. Wir waren noch zu wenige, aber immerhin: es war ein Anfang.
Vieles ist ins Rutschen geraten nach Putins brutalen und völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine, ein souveränes Nachbarland. Quasi über Nacht sind Einstellungen, die bis dato fester Bestandteil der außenpolitischen Agenda vieler linker Genossinnen und Genossen waren, ein für allemal delegitimiert: allem Voran ein mehr oder weniger deutlich artikulierter Standpunkt auf der Seite von Russland, der selbst angesichts der immer autoritärer und repressiver werdenden Regierung Putins nicht geräumt wurde. Es besteht große Einigkeit in der LINKEN, dass dieser Überfall eine Zäsur darstellt. Jetzt ist es an der Zeit, darüber zu sprechen, was diese Zäsur denn konkret für die Zukunft linker Außenpolitik bedeutet. Unsere Parteivorsitzende Susanne Hennig-Wellsow hat die Debatte dazu eröffnet und einige sehr richtige Fragen gestellt. Auch unser außenpolitischer Sprecher, Gregor Gysi mahnt uns in seinem Brief an die Fraktion, dass in Anbetracht dieser Zäsur „auch wir über uns nachdenken“ müssen. Dem möchte ich mich anschließen und meine Überlegungen mit euch teilen:
Ich habe bereits in meiner Wahlauswertung, „Liebe Linke, wir müssen reden“ analysiert, dass sich unsere Außenpolitik im Wahlkampf als Achillesferse linker Politik erwiesen hat. Ob es unsere Haltung zum Evakuierungsmandat in Afghanistan oder unsere Forderung zur Auflösung der NATO war - unsere außenpolitischen Positionen sind vielen unserer Wähler:innen nicht mehr vermittelbar. Eine Weiterentwicklung linker Außenpolitik wurde von Fraktions- und Parteivorsitzenden zu Recht angekündigt. Dafür wird es jetzt höchste Zeit.
Eines ist klar: Die implizite und weitgehend kritiklose Haltung gegenüber der herrschenden russischen Politik muss der Vergangenheit angehören. Sie war schon länger ein Problem und hat dazu geführt, und dass wir bei zentralen Konflikten eine unklare Position hatten oder noch schlimmer: dank der lauten Parteinahme Einzelner der Eindruck entstand, dass wir auf der falschen Seite stünden. Nehmen wir die Annexion der Krim. Sie eindeutig und unmissverständlich als völkerrechtswidrig zu geißeln, daran musste ab und an erinnert werden. Wir hatten den Krieg im Donbas zu wenig auf dem Schirm, bisweilen ist sogar der Eindruck entstanden, wir hegten Sympathien für russische Separatist:innen. Auch andere Aggressionen von Russland gegenüber seinen Nachbarländern waren keine Lehre, haben nicht dazu geführt, den aggressiven und imperialen Charakter von Putins Politik früher und klar zu erkennen. Bei russischen Militäraktionen in Syrien verwiesen einige darauf, dass der syrische Staat nicht zerfallen darf. Die massiven Repressionen - die Oppositionelle, Journalist:innen, die Zivilgesellschaft und insbesondere LGBTIQ in Russland erfahren - wurden viel zu wenig thematisiert und nicht als Alarmsignale wahregenommen. Das gleiche gilt für Putins Politik im Interesse der russischen Oligarchie, die auf Kosten der großen Mehrheit der Bevölkerung lebt. Auch bei der Bewertung der Maidan-Proteste in den Jahren 2013 und 2014 in der Ukraine wurde die Perspektive, dass es sich dabei in erster Linie nur um eine von außen gesteuerte Aktivität der Rechtsextremen handelt, mit dem Ziel eine pro-russische Regierung in der Ukraine zu destabilisieren, von einigen zu bereitwillig übernommen. Zu den Fällen Skripal oder Nawalny wurden unterschiedliche Botschaften bei der notwendigen Verurteilung dieser Verbrechen gesendet. Die geo-strategischen Interessen, die Putin mit Nord-Stream-2 verfolgt, haben wir schließlich mehrheitlich zu wenig reflektiert.
Klar ist auch: Diese Fehleinschätzungen sind nicht von allen in gleicher Weise getroffen worden. Dass es zu vielen Fragen unterschiedliche Haltungen in Partei und Fraktion in Bezug auf Russland gab und gibt, ist kein Geheimnis und auch nicht, dass die Mehrheitsposition im zuständigen Arbeitskreis der Bundestagsfraktion häufig im Widerspruch zur Mehrheit in der Gesamtfraktion stand. Und wir, die wir die russische Politik unter Putin seit längerem kritisch sehen, waren häufig zu leise. Es ist an der Zeit, dass wir lauter werden!
Wer aber noch die massive Präsenz russischer Truppen im Grenzgebiet zur Ukraine kleingeredet hat oder einen Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine noch am Vorabend ins Reich der Phantasmen und der Kriegstreiberei verdammt hat, sollte bitte der Aufforderung von Jens Bisky folgen: „Wer sich getäuscht hat, muss sich fragen, warum er getäuscht werden wollte“.
Die berechtigte Kritik am Agieren der NATO in der Vergangenheit und die bei einigen Linken verbreitete Suche nach dem „Feind im eigenen Land“ hat dazu geführt, dass noch am Tag des russischen Angriffskrieges die Verurteilung desselben nur in komplizierten Schachtelsätzen und mit gleichgewichteter NATO-Kritik geäußert werden konnte. Dieser NATO-what-aboutism wurde von einigen bis zur letzten Sekunde gepflegt. Das hat nicht nur die Augen vor der Realität verschlossen, sondern auch zu einer Relativierung und Verharmlosung von Putins Aggression geführt. Die Kritik am Agieren der NATO in der Vergangenheit ist übrigens nicht zurückzunehmen. Aber unsere Glaubwürdigkeit in der Außenpolitik ist massiv erodiert, als die NATO-Kriegseinsätze von einigen auf die gleiche Stufe mit der aktuellen Aggression von Putin gestellt wurden oder die NATO gar als Hauptaggressor beschrieben wurde. Dabei hat Putin - und das ist entscheidend - eine Bedrohung des Weltfriedens ausgelöst, die sehr lange nicht mehr da gewesen ist. Sein Neo-Imperialismus ist zutiefst verachtenswert. Es gibt weitere Fragen, die gestellt werden müssen: Wie oft haben Linke etwa an das Versprechen erinnert, dass die NATO nicht an die Grenzen Russlands vorrücken darf, und wie selten daran, dass das Budapester Memorandum der Ukraine Souveränität und Sicherheitsgarantien zusichert? (Für weitere kritische Fragen an westliche Linke ist auch der Text "An die Linke im Westen" von Taras Bilous zu empfehlen.) Hier gibt es Einiges aufzuarbeiten. Für mich ist klar: Diese schweren Fehler dürfen sich nicht wiederholen!
Ich bin sehr dankbar und froh darüber, dass wir uns in der klaren Verurteilung von Putins Angriffskrieg inzwischen alle einig sind, doch spätestens durch diese Zäsur ist klar: Linke Außenpolitik braucht endlich ein kluges Update. Alte Gewissheiten müssen überprüft werden, ohne gleich friedenspolitische Grundsätze über Bord zu werfen. Um unser selbst Willen, aber auch, um wieder glaubwürdig zu sein, müssen wir diese Diskussion führen. Eine starke und glaubwürdige linke Stimme in der Außen- und Friedenspolitik ist dringend nötig, denn die von Scholz angekündigte Aufrüstungsstrategie und die Neuauflage des - im „besten“ Falle - kalten Krieges, oder die absurde Idee, die Wehrpflicht wieder einzuführen, beweisen einmal mehr: DIE LINKE wird gebraucht! Auch als kluge, zeitgemäße, antimilitaristische Friedenspartei. Viele Menschen lehnen das sinnlose 100-Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr als Subventionsprogramm völlig zurecht ab – es ist ein Subventionsprogramm für die Rüstungsindustrie. Eine neue Friedensbewegung entsteht (übrigens nicht nur in Deutschland, weltweit, auch in der Ukraine und in Russland). Um von diesen Menschen wieder als ernstzunehmende Interessenvertretung wahrgenommen zu werden, müssen wir uns verändern.
Ich halte es für angebracht, sich in einem ersten Schritt Gedanken darüber zu machen, welche Grundsätze und Haltungen für eine Weiterentwicklung linker Außen- und Friedenspolitik gelten sollten und das hier sind meine Vorschläge:
- DIE LINKE ist eine antimilitaristische Friedenspartei. Das ist etwas ganz anderes, als eine pro-russische Partei zu sein, als die wir häufig wahrgenommen wurden. Russland hat sich unter Putin immer mehr zu einem autokratischen Staat entwickelt. Das müssen wir kritisieren. Die Parteinahme für ein autokratische System können wir getrost der AfD und der neuen Rechten überlassen. Deren ideologische Gemeinsamkeiten sind nicht zu übersehen, aber mit linker Politik hat das nichts zu tun.
- Wir haben Deutsche und als LINKE eine historische Verantwortung gegenüber Russland, wie auch gegenüber den anderen Ländern, die von Nazi-Deutschland überfallen wurden, aus denen Menschen in der Roten Armee oder im Widerstand gekämpft haben. Wir stellen uns an die Seite von Menschen, nicht von Nationen. Jede Feindseligkeit gegenüber Russinnen und Russen, aber auch gegenüber anderen Osteuropäer:innen, die in Deutschland eine unselige Tradition hat, lehnen wir entschieden ab.
- Die Länder Osteuropas sind nicht Verhandlungsmasse von selbsternannten Großmächten. Ich halte die NATO-Osterweiterung tatsächlich für falsch, aber im Sprechen und Denken über Sicherheitsbedürfnisse dürfen wir auch die Sicherheitsbedürfnisse anderer osteuropäischer Länder nicht übergehen.
- DIE LINKE ist Partei des Völkerrechts, ohne Wenn und Aber.
- Linke Außenpolitik orientiert sich an Menschenrechten. Die Tatsache, dass die Menschenrechte in der Vergangenheit missbraucht wurden, um Kriege zu rechtfertigen, macht sie nicht zu einem bürgerlichen Konstrukt. Es spricht gegen diejenigen, die sie missbrauchen, nicht gegen die Menschenrechte an sich. Nicht umsonst singen wir am Ende jedes Parteitages: Die Internationale erkämpft das Menschenrecht!
- Linke Politik stellt sich konsequent und ohne Wenn und Aber gegen Nationalismus, Imperialismus und Großmachtstreben, egal von wem sie ausgeht. Ein plumper Anti-Amerikanismus und die Haltung „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ müssen der Vergangenheit angehören.
- Linke Politik darf nicht mit zweierlei Maß messen. Ohne diese Klarheit können wir auch nicht das zweierlei Maß anderer kritisieren. Für Autokraten darf es kein Verständnis, keine Relativierung geben, nur weil sie sich z.B. gegen die USA stellen. Unsere Beurteilung und unsere Antworten dürfen sich nicht unterscheiden, wenn Russland die Ukraine, die Türkei Rojava oder die USA Kuba überfallen würde.
- Zwischen Autokratie und Demokratie darf es keine Äqui-Distanz geben. Der Platz der Linken ist an der Seite der Demokratiebewegungen in der Ukraine und in Russland, an der Seite der russischen Opposition. Je schneller Putin gestürzt ist, desto eher gibt es eine Chance auf Wiederannäherung zwischen Russland und dem Rest Europas, und diese wäre so nötig.
- Der Austritt aus oder die Auflösung der NATO und eine Sicherheitssystems unter Einschluss von Russland sind in weite Ferne gerückt. Missverständliche und aus der Zeit gefallen Formulierungen zu diesem Thema sind uns im Wahlkampf bereits auf die Füße gefallen. Wir sehen jetzt zwar: Die Überwindung der NATO und die Etablierung einer neuen Friedensordnung unter Einschluss von Russland nach dem Ende des kalten Krieges wäre deutlich besser gewesen. Damals wurde diese Forderung auch breit getragen. Zur Wahrheit gehört allerdings auch: es ist weder uns noch der Friedensbewegung gelungen, so viel Gewicht auf die Waage zu bringen, um diese Forderung auch nur in Ansätzen hegemonial und durchsetzungsfähig zu machen. Spätestens jetzt ist klar: Solange Putin über Russland regiert, wird es kein solches Sicherheitsbündnis mit Russland geben. Eine wirtschaftliche, ökonomische und sicherheitspolitische Kooperation mit einem demokratischen Russland bleibt ein langfristiges Ziel. Der Sturz von Putin ist dafür aber die Voraussetzung.
- Linke Außenpolitik muss die Stärkung und Demokratisierung internationaler Institutionen ins Visier nehmen. OSZE und UNO müssen gestärkt, die UNO, etwa im Sicherheitsrat reformiert werden. Doch es sind diese internationalen Strukturen, die wir wollen, da darf es kein Vertun geben.
- DIE LINKE steht ein für humanitäre Hilfe, die Stärkung von Entwicklungszusammenarbeit und zivile Konfliktlösungen.
Aus diesen grundsätzlichen Erwägungen zu LINKER Außenpolitik ergeben sich folgende drei ganz konkrete und jetzt umzusetzende Handlungsfelder:
- DIE LINKE heißt Geflüchtete willkommen! Wir unterscheiden nicht nach Herkunftsländern und Hautfarbe. Das bedeutet: Flüchtenden Menschen muss unabhängig ihrer Papiere geholfen werden. Der Bund muss Länder und Kommunen besser unterstützen. Menschenrechte sind unteilbar! Wir wollen keine Abschiebungen und Asyl für russische Deserteur:innen.
- Unsere Haltung, dass Nord-Stream-2 eröffnet werden soll, ist nicht mehr aufrecht zu halten. Ich habe meine Meinung dazu jedenfalls geändert. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Deutschland und die EU täglich sehr hohe Summen für Erdgas aus anderen Pipelines zahlen. Vielmehr braucht es sofortige und große Investitionen in Erneuerbare Energien und Wärmeversorgung. Energieautarkie ist Teil von Friedenspolitik. Wir brauchen kein Sondervermögen für die Bundeswehr, sondern für Investitionen in die erneuerbaren Energien - bei gleichzeitiger Bekämpfung von Energiearmut und in der Perspektive von Klimagerechtigkeit.
- Unser kategorisches Nein zu allen wirtschaftlichen Sanktionen ist nicht mehr zu halten. Hier müssen wir differenzieren zwischen denjenigen, die die Oligarchie und die Entscheider treffen, und denjenigen, die tatsächlich nur die verarmte Bevölkerung treffen. Gerade wenn wir weiterhin Waffenlieferungen glaubwürdig ablehnen wollen, braucht es eine solche differenzierte Antwort. Ein brutaler Überall auf ein souveränes Nachbarland kann die internationale Staatengemeinschaft nicht unbeantwortet lassen. Ich bin sehr froh, dass die Bundestagsfraktion im Entschließungsantrag eine kluge Formulierung getroffen hat, die diese Differenzierung vornimmt. Jetzt kommt es darauf an, unsere Vorstellungen von wirkungsvollen Sanktionen gegen die Oligarchie klar zu definierenden konzeptionell zu untersetzen. Die Vorschläge von Thomas Piketty oder die von Moritz Warnke bieten dafür gute erste Ansätze. Ein funktionierendes Transparenzregister und ein europäisches Immobilienregister wären für die Umsetzung notwendig.
Das sind einige Vorschläge, die ich in die Debatte zur Weiterentwicklung linker Außenpolitik einbringen möchte. Darüber hinaus ist eine offene und ehrliche Debatte zu den von Susanne gestellten Fragen dringend nötig. Diese betreffen vor allen Dingen die Durchsetzung des Völkerrechtes. Auf die Frage, was wir tun, wenn ein souveränes Land überfallen wird, und welche Selbstverteidigungsrechte dieses Land hat, haben wir keine gute Antwort. Diese Debatte sollten wir solidarisch führen.
Gregor Gysi hat sehr Recht, wenn er schreibt, dass es nicht darum gehen kann, „alte Ideologien zu retten.“ Linke Politik muss von dieser Welt sein, braucht konkrete Antworten auf reale Probleme. Mit dem Herunterbeten des orthodoxen Katechismus kommen wir angesichts der Zäsur, die dieser furchtbare Krieg bedeutet, nicht weiter. Wie heißt es so schön? Fragend schreiten wir voran! Lasst uns auf den Weg machen!