Rückgang von Sozialwohnungen stoppen!

18.05.2017
Caren Lay, DIE LINKE: Rückgang von Sozialwohnungen stoppen!

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Im Jahre 1990 gab es noch 3 Millionen Sozialwohnungen in Deutschland. Heute sind es weniger als die Hälfte. Gerade mal 1,3 Millionen Sozialwohnungen sind noch vorhanden, und die Tendenz ist weiter sinkend. Das ist eines der vielen niederschmetternden Ergebnisse der Großen Anfrage der Linken zum sozialen Wohnungsbau. Wir Linke sagen ganz klar: Der Niedergang des sozialen Wohnungsbaus ist dramatisch, und wir müssen ihn stoppen!

Denn der soziale Wohnungsbau ist gut für alle Mieterinnen und Mieter, also auch für diejenigen, die ihn nicht selber nutzen. Sozialwohnungen dämpfen die Mietpreise für alle und sorgen für bezahlbare Mieten für alle.

In den 80er-Jahren waren noch circa 20 Prozent aller Wohnungen Sozialwohnungen. Heute sind es gerade einmal 3 Prozent. Dieser erschreckende Trend wird sich weiter fortsetzen. Die Länder sagen - auch das ein Ergebnis unserer Anfrage - einen weiteren dramatischen Rückgang der Anzahl der Sozialwohnungen bis 2030 voraus, nämlich auf 50 bis 75 Prozent der jetzt überhaupt noch zur Verfügung stehenden Bestände. Damit verliert natürlich auch die Politik an Einflussmöglichkeiten, das Mietpreisniveau zu dämpfen. Deswegen sagen wir: Der Rückgang der Anzahl der Sozialwohnungen ist mitverantwortlich für die Mietenexplosion in deutschen Städten, und das ist wirklich beschämend!

Eines dürfte wirklich unstrittig sein: Der Bedarf an Sozialwohnungen ist nicht gedeckt. Experten beispielsweise vom Pestel Institut sagen, es fehlen mindestens 4 Millionen Sozialwohnungen in Deutschland. Die Bundesregierung bestreitet zwar diese Zahlen, aber Frau Hendricks sagte vor einigen Wochen selber im Morgenmagazin, dass 40 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger theoretisch einen Anspruch auf eine Sozialwohnung hätten. Das hieße dann umgerechnet, 25 anspruchsberechtigte Bürgerinnen und Bürger kämen auf eine Sozialwohnung. - Das wird ja nun wirklich ein bisschen eng.

Frau Hendricks scheint das aber alles nicht wirklich problematisch zu sehen. Vor ein paar Tagen, kurz vor der NRW-Wahl, sagte sie, es wurden im letzten Jahr in der Tat 25 000 neue Sozialwohnungen gebaut. Das sei eine Trendwende beim sozialen Wohnungsbau. - Nun freuen wir als Linke uns auch über jede neue Sozialwohnung. Ich begrüße ausdrücklich, dass es mehr geworden sind. Die Ministerin verschweigt jedoch, dass jährlich weiterhin circa 50 000 Sozialwohnungen aus der Bindung fallen. Das heißt doch faktisch, dass wir immer noch Jahr für Jahr einen Verlust von etwa 25 000 Sozialwohnungen haben. Das ist keine Trendwende, Frau Ministerin, das ist bestenfalls ein ausgebremster Niedergang, und damit können wir uns nicht zufriedengeben!

Der Grund dafür ist übrigens, dass Sozialwohnungen nach 15 oder 20 Jahren aus der sogenannten Bindung fallen. Das bedeutet dann zu oft: Die Mieten steigen enorm, und die Mieter fliegen über kurz oder lang aus ihren Wohnungen, während die Besitzer dann erst so richtig kassieren. - Das ist absurd. Deswegen sagen wir: Einmal Sozialwohnung, immer Sozialwohnung - das muss in Zukunft gelten!

Wenn wir hier nicht handeln, dann werden - das kann man, glaube ich, sagen - in den nächsten Jahren Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende Sozialmieterinnen und Sozialmieter aus ihren Wohnungen fliegen. Das können wir nicht zulassen. Wir brauchen einen Bestandsschutz für die bisherigen Sozialmieter.

Wir haben schon mehrfach über dieses Thema diskutiert, und wir waren uns fraktionsübergreifend einig, dass es ein Fehler war, die Verantwortung für den sozialen Wohnungsbau bei der Föderalismusreform im Jahre 2006 an die Länder zu übergeben; denn wann man sich die Bilanz der letzten elf Jahre dazu ansieht, dann sieht man, dass sich diese alle nicht mit Ruhm bekleckert haben.

In einigen Ländern wurden die geschenkten Gelder des Bundes für alles Mögliche verwendet, nicht jedoch für den Bau von Sozialwohnungen. Einige Bundesländer bauen bis heute keine Sozialwohnungen. Sachsen, das Saarland und Mecklenburg-Vorpommern, die übrigens alle von einer Großen Koalition regiert werden, haben in den letzten Jahren beispielsweise keine einzige Sozialwohnung gebaut.

In vielen Ländern gibt man das geschenkte Geld des Bundes lieber für die Eigenheimförderung aus. Das ist wirklich rausgeschmissenes Geld. Das ist eine Zweckentfremdung von Geldern, und das können wir nicht zulassen.

Ich habe einmal im Protokoll der Plenardebatte aus dem Jahre 2006 nachgelesen, als die Verantwortung für den sozialen Wohnungsbau an die Bundesländer übergegangen ist. Es gab damals eine einzige Fraktion, die das problematisiert und kritisiert hat; das war die Linke. Hätten Sie damals mal auf die Linke gehört!

Ich weiß, dass es berechtigte Kritik am sozialen Wohnungsbau gibt: auslaufende Bindungen, Subventionierung von privaten Bauherren. Auch das Thema „Ghettobildung am Stadtrand“ spielt immer wieder eine Rolle, wenn es darum geht, den sozialen Wohnungsbau zu kritisieren. Eines muss man aber doch sagen: Wir können und müssen das zwar besser machen, aber kein sozialer Wohnungsbau ist wirklich keine Lösung.

Das Prinzip, dass für Menschen mit geringem Einkommen Wohnungen von öffentlicher Hand gebaut werden und dass sie gewissermaßen für sie reserviert sind, ist ein wichtiges Prinzip, und daran müssen wir auch in Zukunft festhalten.

Wer sich einmal ansehen möchte, wie sozialer Wohnungsbau gut funktionieren und attraktiv sein kann - auch architektonisch attraktiv -, der muss nach Wien gehen. Dort befinden sich über 40 Prozent aller Wohnungen im Sozialwohnungssegment, und zwar mit guten Ergebnissen. Während die Mieten in Deutschland unter ähnlichen Bedingungen explodieren, steigen sie dort nur moderat. Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen.

Dafür muss man aber mehr Geld in die Hand nehmen. Die Bundesregierung rühmt sich ja, dass sie inzwischen 1,5 Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau bereitstellt. In der Stadt Wien, die gerade einmal so groß ist wie Hamburg, sind es immerhin 680 Millionen Euro; das ist also fast die Hälfte. Würde man das Investitionsvolumen von Wien einmal auf die Bundesrepublik hochrechnen, dann kämen wir auf eine Investition in Höhe von 30 Milliarden Euro. Hier muss ich sagen: Die 5 Milliarden Euro, die wir als Linke in den Haushaltsverhandlungen gefordert haben, wären nicht zu viel verlangt. Das wäre gut angelegtes Geld.

Angesichts der Dramatik müssen aus unserer Sicht 250 000 neue Sozialwohnungen im Jahr entstehen - natürlich nicht nur durch Neubau; denn das wäre nicht zu leisten, sondern auch durch Kauf und durch eine Verlängerung der Belegungsbindung. Das wäre der richtige Weg.

Ich glaube, man kann sagen, dass der Niedergang des sozialen Wohnungsbaus kein Zufall war. Er war politisch gewollt. Bis heute ist in der Wohnungswirtschaft eine Erzählung weiterhin beliebt und präsent. Es wird gesagt, der soziale Wohnungsbau und die Objektförderung seien von gestern, Subjektförderung und Wohngeldförderung würden ausreichen. - Das Gegenteil ist richtig. Wenn wir verhindern wollen, dass wir Reichenviertel im Zentrum und Armenghettos am Stadtrand haben, müssen wir auch in Gemeinnützigkeit und in Sozialwohnungen investieren. Wir können es zum Beispiel so machen, wie wir es jetzt in Berlin unter einer rot-rot-grünen Regierung und mit einer linken Bausenatorin machen wollen. Bei jedem Neubauvorhaben müssen dort in Zukunft 30 Prozent der Fläche für Sozialwohnungen reserviert werden. Das wäre der richtige Weg, und daran können sich andere Länder ein Beispiel nehmen.

Die entscheidende Frage wird aber nicht sein, wie wir das ausgestalten werden, sondern ob wir hier im Bundestag, im Bund, nach dem Jahre 2019 überhaupt noch beim sozialen Wohnungsbau mitreden können. Dann laufen nämlich die sogenannten Kompensationsmittel des Bundes aus, und die Verantwortung liegt dann alleine bei den Ländern.

Ich würde es schlichtweg für eine Katastrophe halten, wenn es dazu kommen würde. Deswegen müssen wir an dieser Stelle das Grundgesetz ändern. Das fand auch Frau Hendricks. Sie verkündete erst vor ein paar Monaten, im letzten Sommer: "Wir brauchen die Grundgesetzänderung, um als Bundesregierung wirksam dort helfen zu können, wo die Wohnungsnot am größten ist." Ja, das finde ich auch.

Aber dann begannen die Verhandlungen zum Länderfinanzausgleich. Da wurden alle möglichen kruden Sachen diskutiert, wie zum Beispiel heute Morgen das Thema Autobahnprivatisierung. Aber die Bundeszuständigkeit für den sozialen Wohnungsbau war nicht länger ein Thema. Das können wir nicht akzeptieren. Wir müssen jetzt dafür sorgen, meine Damen und Herren, dass der Bund auch nach dem Jahr 2019 den sozialen Wohnungsbau zweckgebunden und zielgerichtet finanzieren kann. Das wäre der richtige Weg.

Meine Damen und Herren, der soziale Wohnungsbau hat dazu beigetragen, dass Wohnen in Deutschland lange Zeit bezahlbar war. Diese Zeiten sind jetzt leider vorbei. Deswegen müssen wir wieder in den sozialen Wohnungsbau investieren. Die Verantwortung dafür muss zukünftig in öffentlicher Hand, in gemeinnütziger Hand liegen, damit er sozial und nachhaltig ausgestaltet werden kann. Dafür brauchen wir einen neuen Gemeinnützigkeitsbegriff, und wir brauchen einen Neustart im sozialen Wohnungsbau. Anders bekommen wir das Problem steigender Mieten und der Verdrängung in den Städten nicht in den Griff.

Vielen Dank.

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Buchcover

Die Wohnungsfrage ist die soziale Frage unserer Zeit. Doch statt sie anzugehen, werden Fehlentwicklungen systematisch politisch gefördert. Wohnungen sind zu reinen Spekulationsobjekten verkommen. Hohe Nachfrage und sogenannte Zwangssanierungen lassen die Mieten explodieren und zwar nicht nur in den Großstädten, sondern auch im Umland. Menschen werden aus jahrzentelang gewachsenen, sozialen Strukturen gerissen, gentrifzierte Viertel zu Soziotopen der Besserverdienenden. Wie konnte es soweit kommen? Warum unternimmt die Politik so wenig, um Mietenwahnsinn und Spekulation endlich zu stoppen? Und was muss getan werden, damit Wohnen endlich wieder bezahlbar wird? Caren Lay nimmt die deutsche Wohnungspolitik der letzten 20 Jahre schonungslos unter die Lupe, zeigt auf, wie und warum Deutschland zum Eldorado für Wohnungsspekulation werde konnte, und liefert provokante Ideen für eine soziale Wohnungspolitik, die wir so dringend brauchen.

Erschienen bei Westend / 160 Seiten Leseprobe

Über mich
Ich bin Bundestagsabgeordnete und Sprecherin für Mieten-, Bau- und Wohnungspolitik sowie für Clubpolitik.